Digitalisierung in der Lehrerbildung Tübingen (TüDiLB)
Zentrum für Forschung und Transfer

Ein Verbund der Universität Tübingen und des Leibniz-Instituts für Wissensmedien.

Den Schülerdaten auf der Spur

Durch den rasanten technischen Fortschritt ist es mittlerweile ohne Weiteres möglich, zeitgleich große Mengen an Daten zu erheben. Auch aus der Perspektive des Bildungswesens handelt es sich dabei um eine verheißungsvolle Entwicklung, mit der Lehr- und Lernprozesse noch besser verstanden und in der Folge auch optimiert werden können.

Doch welche Rolle spielt die Privatsphäre der Schüler*innen bei einer digitalen Lernstandserhebung? Und wer trifft überhaupt die Entscheidung, was ethisch geboten ist und was nicht? Hakimi und Kolleginnen (2021) haben in ihrem Review untersucht, welche ethischen Überlegungen bisher zur Nutzung von digitalen Spurendaten im Bildungskontext angestellt wurden und wie diesen ethischen Anforderungen begegnet wird.

Was sind digitale Spurendaten?

Bei der Verwendung von digitalen Geräten können auf verschiedene Arten Daten gesammelt werden. Ganz offensichtlich geschieht dies dort, wo Daten direkt abgefragt werden, wenn bspw. Name oder Email-Adresse angegeben werden müssen. Darüber hinaus werden Daten aber auch ohne explizite Eingabeaufforderung gesammelt, so zum Beispiel bei der Nutzung von Lernplattformen, die automatisch speichern, wer wann was liest, bearbeitet oder herunterlädt. Letztlich stellen die Nutzerinnen und Nutzer dieser Plattformen proaktiv Daten zur Verfügung, wenn sie Bilder von sich teilen, Nachrichten auf Sozialen Netzwerken posten und ähnliches. Das Resultat ist eine kaum überblickbare Datenmenge, die sich aus verschiedenen Quellen speist und für den Bildungskontext aus verschiedener Perspektive interessant werden kann.

Was sagen Lehrkräfte zu den ethischen Herausforderungen digitaler Spurendaten?

“In Lernapps kann ich unkompliziert nachvollziehen, welcher Schüler oder welche Schülerin welche Aufgaben bereits erledigt hat, wie lange sie dafür gebraucht haben und welche Inhalte sie meistern konnten. Das heißt, ich kann auf einen Blick erkennen, wo noch Unterstützungsbedarf vorhanden ist. Das ist ganz schön viel Information an einem Ort zusammengestellt. Manchmal frage ich mich aber, welche Daten von den Apps denn noch so gespeichert werden und ob ich das ok finde. Das ist meist etwas undurchsichtig oder in den Apps versteckt aufgeführt. Alleine alle Richtlinien der Apps durchzuschauen und zu beurteilen, ob das ok ist, kann ich nicht immer leisten.”

Wozu den Einsatz digitaler Spurendaten mit Ethik verbinden?

Das Interesse an der Nutzung von digitalen Spurendaten im Kontext von (schulischer) Bildung steigt etwa seit den 2010er Jahren kontinuierlich. In diese Zeit fällt das Aufkommen von sogenannten MOOCs (Massive Open Online Courses), also frei zugänglichen Onlinekursen mit besonders großen Teilnehmendenzahlen. Das Forschungsfeld rund um die Erhebung von solch großen Datenmengen ist vergleichsweise jung – dementsprechend gemischt sind die Äußerungen zu ethischen Implikationen, die mit der Nutzung von digitalen Spurendaten im Bildungswesen einhergehen. Hakimi und Kolleginnen (2021) versuchen daher, in ihrem Review diejenigen Studien zu bündeln, die sich sowohl mit dem Einsatz digitaler Spurendaten als auch mit den damit einhergehenden ethischen Herausforderungen beschäftigen. Hierdurch sollen die wesentlichsten Diskussionspunkte hervorgehoben, aber auch bereits erste Vorschläge zum Umgang mit den jeweiligen Problemstellungen angegeben werden. Gerade mit dem Aufkommen der Online-Lehre sind Lehrkräfte vor die Entscheidung gestellt, welche Programme und welche Arten der Datenerhebung genutzt werden.


Das Review ❯❯

Das Review

„Die Ethik der Verwendung digitaler Spurendaten im Bildungswesen: Ein thematisches Review über die Forschungslandschaft“ (von: Hakimi, Eynon und Murphy, 2021)

Hakimi und Kolleginnen (2021) haben untersucht, welche ethischen Überlegungen bislang angestellt werden, wenn es um die Verwendung digitaler Spurendaten in Bildungskontexten geht und welche Antworten auf die aufgezeigten Problemstellungen gegeben werden.

Was wird untersucht?

In einer systematischen qualitativen Analyse wurden 77 Studien untersucht, die sich thematisch mit digitalen Spurendaten in Bildungskontexten beschäftigt haben und die dabei explizit auf damit einhergehende ethische Herausforderungen eingegangen sind.

53 der 77 Studien, die allesamt zwischen 2012 und 2019 veröffentlicht wurden, waren theoretisch bzw. konzeptuell ausgelegt. Neben einem einzelnen systematischen Review sind ein Fünftel der Studien empirisch und elf weitere Studien konkret handlungsbezogen und beschäftigen sich bspw. mit ethischer Entscheidungsfindung.

Die ausgewählten Studien widmen sich dem Thema über viele Fächer hinweg und schließen Studien aus der Soziologie ebenso wie bspw. Studien aus den Rechts- oder Computerwissenschaften mit ein.

Kontext der Studien

Fokus
Einrichtung
Region
Art der Studie

Bewegen Sie die Maus über die Begriffe
Big Data, Sehr große Datenmengen (auch: Massendaten), die bspw. aufgrund ihrer Größe und Komplexität händisch nicht mehr ausgewertet und strukturiert werden können.
Learning Analytics, Das Sammeln und Auswerten von Daten zu Schüler*innen und deren Lernumgebungen mit dem Ziel, Lernprozesse und Lernleistungen zu verbessern.
Educational data mining, Ziel des education data mining ist der effiziente, digitale Umgang mit big data aus dem Bildungsbereich. Unter Anwendung statistischer Verfahren oder Verfahren des data minings, d.h. der Suche nach Mustern in großen Datenmengen, sollen Erkenntnisse zu Lernprozessen in entsprechenden Bildungsumgebungen generiert werden.
Datafizierung/governance, Der Trend, verschiedenste Informationen/Aspekte unseres Lebens wie bspw. Suchanfragen oder Angaben zu Interessen in Daten zu überführen. So können bspw. soziale Plattformen die Interessen ihrer Nutzer*innen als Daten an Werbetreibende weiterverkaufen, um Profit zu erzielen.
um kurze Erklärungen zu erhalten.


Forschungsfragen und Ergebnisse

„Welche ethischen Überlegungen spielen bislang eine Rolle, wenn es um die Nutzung digitaler Spurendaten im Bildungskontext geht?“

Es lassen sich über alle Studien hinweg vier wiederkehrende Themenbereiche feststellen:

Datenschutz und Dateneigentum: Der Begriff der Privatsphäre wird laut den einbezogenen Studien sehr unterschiedlich definiert und scheint abhängig von der jeweiligen Rechtslage zu sein. Diskutiert wird unter anderem, wem erhobene Datensätze gehören und wie über Datenschutz nachgedacht werden muss, wenn bereits erhobene Daten anderweitig verwendet werden als ursprünglich vorgesehen. Auch die Datenübertragung an Dritte, z.B. bei der Nutzung von Lern-Tools, wird vor dem Hintergrund von Kommerzialisierung und von möglichen Sicherheitslücken kritisch betrachtet. Zu Teilen wird die Möglichkeit der Überwachung als Gefahr für die Autonomie und das Vertrauen der Schüler*innen gesehen. Auch Lehrkräfte sind ganz konkret mit diesem Themenbereich konfrontiert: Weiß ich, welche Daten die App sammelt, die ich im Unterricht verwende? Was passiert mit den gesammelten Daten und passt das zu meinem Verständnis von Privatsphäre?

Gültigkeit, Integrität und Interpretation von digitalen Daten: Die Studien kritisieren, dass digitale Datenerhebung ggf. nicht-digitale Arten des Lernens missachtet und so kein objektives Bild liefern kann. Auf diese Weise könnten Ungleichheiten geschaffen oder bestehende vertieft und reproduziert werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Schüler*innen aufgrund ihrer Herkunft manche Bildungswege nicht vorgeschlagen werden: Weil der Bildungsaufstieg aus sozial benachteiligten Familien erwiesenermaßen mit mehr Hürden einhergeht, schätzt ein algorithmenbasiertes Lernprogramm eine spezifische Förderung ggf. als wenig zielführend ein, da die Erfolgschancen vergleichsweise gering ausfallen. Die Lernprozesse, die die betroffenen Schüler*innen abseits der Plattform durchlaufen und sie sehr wohl für einen entsprechenden Aufstieg qualifizieren, werden dabei missachtet. Gleiche Vorsicht ist bspw. geboten, wenn bestimmte Geschlechter-Stereotype von Plattformen reproduziert werden, wenn etwa Mädchen im naturwissenschaftlichen Bereich eine weniger differenzierte Förderung erhalten. Lehrkräfte dürfen daher digitalen Spurendaten nicht blind vertrauen und müssen sich stets fragen: Bilden die Daten den Lernprozess der Schüler*innen adäquat ab? Welche zusätzlichen Informationen sind wichtig zur Interpretation der Daten?

Ethische Entscheidungsfindung und Handlungsverpflichtung: Die Studien werfen die Frage auf, wie damit umgegangen werden soll, wenn die Datensätze bspw. zeigen, dass Schüler*innen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit scheitern oder Hilfe benötigen. Fraglich ist nicht nur, ob man zu einer Handlung diesbezüglich verpflichtet ist, sondern auch, ob ggf. die Eltern der Schüler*innen einbezogen werden müssen. Wenn bspw. eine Schülerin ihre Aufgaben immer unvollständig, einen Tag zu spät oder mitten in der Nacht abgibt, muss die Lehrkraft eine Entscheidung treffen: (wie) spreche ich die Schülerin darauf an und ab welchem Zeitpunkt suche ich das Gespräch mit ihren Eltern?

Governance und Rechenschaftspflicht: Innerhalb der einbezogenen Studien, wird es grundsätzlich kritisch gesehen, wenn nicht mehr Pädagogen über die Notwendigkeit einer Intervention entscheiden, sondern Softwaredesigner.

Tiefergehende Informationen für Fortgeschrittene

Qualität des Reviews

    Was überzeugt?
  • Die Autor*innen haben transparent beschrieben, nach welchen Kriterien die Studien ausgewählt wurden. Lesende können also gut nachvollziehen, ob die aufgenommenen Studien zum Thema passen.
  • Die Grenzen des systematischen Reviews, die sich aus der relativen Neuheit der behandelten Fragestellung ergeben, wurden offen dargelegt.
  • Die Qualität der Studien wurde durch die Beschränkung auf Studien gesichert, die in Zeitschriften mit wissenschaftlichem Begutachtungsverfahren (Peer-Review) veröffentlicht wurden.
  • Die Autor*innen legen ein breites ethisches Fundament, das eine Einordnung der Studien erleichtert und darüber hinaus als Basis für Vorschläge für weitere Forschung dient.
    Was muss beachtet werden?
  • Ein Großteil der Studien wurde im englischsprachigen Raum durchgeführt. Weil die ethische Handhabe von Daten maßgeblich von der nationalen Rechtsprechung abhängig ist, muss noch überprüft werden, ob sich die Ergebnisse auf das deutsche Bildungssystem übertragen lassen.
  • Die meisten Studien sind im Kontext der Hochschulbildung angesiedelt. Insbesondere jüngere Schüler*innen, Vorschulkinder oder informelle Bildungskontexte werden im Review nicht ausreichend beachtet.
  • Aufgrund der Neuheit der Thematik und um nicht wichtige Forschungsfelder auf diese Weise auszuschließen, konnten keine strengen Qualitätsstandards angewandt werden.

Implikationen für die Praxis ❯❯
Quelle

Hakimi, L., Eynon, R., Murphy, V. A. (2021). The Ethics of Using Digital Trace Data in Education: A Thematic Review of the Research Landscape. Review of Educational Research, 1-47. https://doi.org/10.3102/00346543211020116

Welche Rolle spielen die ethischen Aspekte der Nutzung digitaler Spurendaten im Schulleben?

Wer browserbasierte Lernplattformen im Unterricht nutzen möchte, sieht sich mit einer Vielzahl an ethischen Fragestellungen konfrontiert, die vom Schutz der Privatsphäre der Schüler*innen bis hin zu rechtlichen Einschränkungen reichen: Welche Daten werden von den Apps gesammelt, die ich im Unterricht verwende? Darf ich überhaupt kontrollieren, um wie viel Uhr meine Schüler*innen ihre Hausaufgaben bearbeiten? Bilden die gesammelten Daten den Lernprozess meiner Schüler*innen überhaupt richtig ab?

Das Review deutet darüber hinaus darauf hin, dass die Nutzung von Spurendaten weniger das Anliegen von einzelnen Lehrkräfte sein sollte als vielmehr Gegenstand gesamtschulischer Richtlinien, die die Nutzung solcher Daten im Kontext von Recht, Ethik und Governance begreifen.

Inhaltliche Einordnung

Hakimi und Kolleginnen werfen wichtige Fragen zum Umgang mit digitalen Spurendaten in pädagogischen Kontexten auf. Dabei machen sie deutlich, dass sich auch ethische Fragen stellen, von denen Lehrkräfte direkt betroffen sind, die im Unterricht mit digitalen Medien hantieren. Durch die Bündelung ihrer Ergebnisse ermöglichen sie es Lehrkräfte, sich verschiedene Bereiche proaktiv zu erschließen und im Unterricht einen bewussten und souveränen Umgang mit digitalen Spurendaten zu pflegen (siehe aufgeworfene Reflexionsfragen). Ein wichtiges Ergebnis des systematischen Reviews ist, dass das Thema nicht nur für die einzelne Lehrperson von Belang ist, sondern am besten in gesamtschulischen Richtlinien angegangen werden sollte. So lassen sich gemeinschaftliche Vereinbarungen treffen, die von vornherein die Grundlage für einen guten Umgang mit digitalen Spurendaten im Zusammenhang von Ethik, Rechtsprechung und Führung legen.

Beispiele

Mehr Informationen und Beispiele von konkreten digitalen Anwendungen:

Zitation

Breil, P., Schneider, J., & Lachner, A. (2021). Die Ethik von digitalen Spurendaten in Schule und Unterricht. Bibliothek aufbereiteter Forschungssynthesen Tübingen (TüDi-BASE). https://www.tuedilb-tuebingen.de/trace-data.html