Digitalisierung in der Lehrerbildung Tübingen (TüDiLB)
Zentrum für Forschung und Transfer

Ein Verbund der Universität Tübingen und des Leibniz-Instituts für Wissensmedien.

Lernen jenseits der Realität?

Über die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland spielt täglich oder mehrmals wöchentlich mit digitalen Spielen (JIM Studie 2018). Dabei erfreuen sich auch solche Spiele zunehmender Beliebtheit, in denen in die analoge Lebenswelt zusätzliche digitale Elemente eingefügt werden (z.B. Pokémon Go). Inzwischen sind solche Augmented Reality (AR)-Anwendungen auch für Lehr-Lernkontexte entdeckt worden und sollen dort den Unterricht lebendiger und abstrakte Fachinhalte anschaulicher machen. Dabei bleibt jedoch oft die Frage offen, ob AR-Anwendungen im Unterricht nur eine Spielerei sind, oder ob dadurch tatsächlich der Lernerfolg der Schüler*innen positiv beeinflusst werden kann. Ja, kann er, sagen Garzón und Acevedo auf Basis ihrer Metaanalyse.

Was ist Augmented Reality (AR)?

Augmented Reality bedeutet, dass die Realität durch den Einsatz einer computergestützten Anwendung eine wahrnehmbare Änderung erfährt. Durch Einblendung oder Überlagerung werden zusätzliche Elemente in die wahrgenommene Lebenswelt projiziert, die in Bildungskontexten oft Hintergrundinformationen zum Wahrgenommenen liefern können. Mit einer entsprechenden Anwendung könnte man bspw. das Smartphone auf ein Denkmal richten, um zu einem Erklärvideo weitergeleitet zu werden oder das Denkmal selbst auf dem mobilen Endgerät aus verschiedenen Perspektiven anschauen oder in es hinein zoomen zu können.

Was sagen Lehrkräfte zum Einsatz von AR im Bildungskontext?

„AR-Anwendungen können natürlich vielseitig eingesetzt werden. So kann ich den Schüler*innen zum Beispiel den Ablauf der Proteinbiosynthese ganz anschaulich erklären, indem ich zusätzlich zu den Texten ein Zellmodell und entsprechende Filmsequenzen einblende. Solche Anwendungen können die Schüler*innen ja sogar selbst erstellen in längeren Projektarbeiten! Da erscheinen dann beispielweise Schulpartnerschaftsgruppen aus Deutschland und Kenia virtuell im Samburu-Nationalpark und erklären den interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern etwas über die örtlichen Auswirkungen des Klimawandels, das kommt natürlich gut an. Ganz ohne Aufwand ist das allerdings leider nicht zu haben. Man braucht ja auch die technische Ausstattung und muss sich dann in die Anwendungen erst einmal einarbeiten. Aber einen großen Spaß- und Lernfaktor hat es natürlich trotzdem! Für mich hat sich der Aufwand auf jeden Fall gelohnt.“

Wozu AR in Lehr-Lernkontexten einsetzen?

Nahezu jede Schülerin und jeder Schüler besitzt heute ein Smartphone – die Grundausstattung für den Einsatz von AR-Anwendungen in Lehr-Lernkontexten ist damit bereits gegeben. Mithilfe von AR-Elementen können besonders komplexe und abstrakte Zusammenhänge anschaulich dargestellt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Das eigenständige Erstellen von AR-Anwendungen eignet sich dabei besonders für eine kreative und tiefgehende Auseinandersetzung mit den Fachinhalten. In verschiedenen Studien wurden positive Effekte des Einsatzes von AR-Anwendungen festgestellt – sowohl im Unterricht, als bspw. auch in der Medizin oder Industrie. Es lohnt sich daher, einen genauen Blick darauf zu werfen, in welchen Lehr-Lernkontexten und Fachbereichen AR-Anwendungen eingesetzt werden können und unter welchen Bedingungen sich dieser Einsatz positiv auf den Lernerfolg der Schüler*innen auswirkt. Die Forschungssynthese von Garzón und Acevedo führt systematisch Befunde zu genau dieser Fragestellung zusammen.


Das Review ❯❯
Das Review

Metaanalyse der Auswirkungen von Augmented Reality auf den Lernzuwachs von Schüler*innen (von Garzón und Acevedo, 2019)

Die Autoren haben systematisch Studien zusammengeführt und ausgewertet, in denen untersucht wird, inwiefern der Einsatz von Augmented Reality in verschiedenen Lernarrangements Einfluss auf den Lernerfolg von Schüler*innen sowie Studentinnen und Studenten hat.

Was wird verglichen?

verglichen wurden...
Lernende, die mit AR-Elementen lernten
mit...
Lernende, die ohne AR-Elemente lernten
In die Metaanalyse wurden 64 Studien mit insgesamt 4705 Lernenden einbezogen. In diesen Studien wurden Lernende, die mit AR-Elementen lernten, hinsichtlich ihres Lernerfolgs mit solchen verglichen, die ohne Einsatz von AR-Elementen lernten. In der überwiegenden Anzahl der Studien (93%) beschränkte sich der Einsatz von AR-Anwendungen auf unter einen Monat.

Kontext der Studien

Geschlechterverteilung
?
Keine Angaben im Review.
Schulstufe
Region
?
Keine Angaben im Review.
Fächer

Forschungsfragen und Ergebnisse

Welchen Einfluss hat die Lernumgebung auf die Wirkung von AR?

Untersucht wurde, in welchen Umgebungen der Einsatz von AR am effektivsten für den Lernzuwachs sein kann. Hierfür verglichen die Autoren den Einsatz von AR im Unterricht mit außerunterrichtlichen Umgebungen (z.B. Exkursionen, Museen, Aktivitäten im Freien), sowie einer Kombination der beiden. Es zeigte sich, dass insbesondere durch den Einsatz von AR in außerunterrichtlichen Umgebungen größere Lernzuwächse erreicht werden können, als durch vergleichbare Lernvorgänge im Unterricht oder einer Kombination von Unterricht und außerunterrichtlichem Einsatz.

Wie unterscheidet sich die Wirksamkeit von AR-Anwendungen abhängig von der Bildungsstufe?

Die Autoren konnten Studien aus der Grundschule, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II und der Hochschule unterscheiden. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Einsatz von AR den größten Effekt auf den Lernzuwachs beim Einsatz in der Hochschule haben kann. Den zweitgrößten Effekt auf den Lernzuwachs kann erzielt werden, wenn AR-Anwendungen in der Primarstufe eingesetzt wird. Bei Lernenden aus der Sekundarstufe I und II sind die Lernzuwächse zwar am niedrigsten, aber immer noch deutlich positiv. Beim Einsatz von AR-Anwendungen gilt also nicht „je älter desto besser“, sondern er kann sich besonders bei Erwachsenen (Hochschule) und mit kleinen Abstrichen bei jungen Kindern (Grundschule) lohnen.

In welchen Fächern konnten AR-Anwendungen besonders erfolgreich eingesetzt werden?

Der Einsatz von AR konnte in den Fachrichtungen Ingenieurwesen, Fertigungstechnik und Bauwesen, sowie in den Kunst- und Geisteswissenschaften besonders erfolgreich eingesetzt werden. Hier war der Lerneffekt in den einbezogenen Studien am größten. Etwas kleinere Lerneffekte konnte in den Fachbereichen der Sozialwissenschaften, Journalismus, Informationstechnologie, Naturwissenschaften, Mathematik und Statistik sowie in den Bereichen Gesundheit und Soziales aufgezeigt werden. Im Gegensatz dazu ergab das Review von Garzón und Acevedo nur einen kleinen, dennoch positiven Effekt für die Bereiche Informatik und Kommunikationstechnologien.

Tiefergehende Informationen für Fortgeschrittene

Qualität des Reviews

    Was überzeugt?
  • Sowohl das Auswahlverfahren der verwendeten Einzelstudien als auch die Berechnung der standardisierten Effektstärken werden transparent dargestellt.
  • Durch das Einbeziehen verschiedener Fachbereiche, Altersstufen und Vergleichsinterventionen konnte eine große Stichprobe dargestellt werden.
  • Die Qualität der Studien wurde durch die Beschränkung auf Studien gesichert, die in Zeitschriften mit wissenschaftlichem Begutachtungsverfahren (Peer-Review) veröffentlicht wurden.
  • Auf Basis statistischer Untersuchungen (Trim-and-Fill-Methode, fail-safe number) urteilen die Autoren, dass in der Metaanalyse eine Publikationsverzerrung kein Problem darstellt.
    Was muss beachtet werden?
  • Durch den Ausschluss von nicht veröffentlichten Studien (grauer Literatur) bleiben ggf. Ergebnisse unberücksichtigt, welche die Effektstärke der Metaanalyse beeinflusst hätten.
  • Aufgrund der unterschiedlichen methodischen Ausrichtung der aufgenommenen Studien (z.B. mit/ohne Pretest/Kontrollgruppe) kann die Frage gestellt werden, inwiefern diese Studien vergleichbar sind.
  • Die in den Einzelstudien beschriebenen Interventionen sind überwiegend sehr kurz (unter einem Monat). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der positive Einfluss des Einsatzes von AR auf den Lernerfolg einem „Neuigkeitseffekt“ zuzuschreiben ist.
  • Welche Art von Wissen (z.B. räumliches Denken, Faktenwissen) besonders gut mit AR vermittelt werden kann, wird aus den Ergebnissen nicht ersichtlich.

Detaillierte Evaluation


Implikationen für die Praxis ❯❯
Quelle

Garzón, J. & Acevedo, J. (2019). Meta-analysis of the impact of augmented reality on students' learning gains. Educational Research Review, 27, 244-260.
https://doi.org/10.1016/j.edurev.2019.04.001

Wie setze ich Augmented Reality sinnvoll im Unterricht ein?

Damit der Einsatz von AR sich möglichst positiv auf den Lernerfolg auswirkt, ist laut der Metaanalyse Verschiedenes zu beachten:

  1. AR Anwendungen können den Lernzuwachs sowohl im Vergleich zu multimedialen Lernumgebungen ohne AR als auch im Vergleich zu herkömmlichen Lehrer*innenvorträgen durchaus steigern.
  2. Bisher gelang der Einsatz von AR Anwendungen besonders in außerunterrichtlichen Umgebungen (z.B. Exkursionen, Museen, Aktivitäten im Freien).
  3. Am besten gelang der Einsatz von AR Anwendungen in der Tertiären Bildung und der Primarstufe. Außerdem scheinen sich Fachinhalte in denen grafische Darstellungen eine Rolle spielen (Ingenieurwesen, Fertigungstechnik, Bauwesen) besonders gut mit AR Anwendungen lernen.

Inhaltliche Einordnung

Welche Chancen und Herausforderungen sind jenseits des Lernzuwachses noch mit AR-Anwendungen verbunden? Garzón, Pavón und Baldiris (2019) fassen den Forschungsstand hierzu zusammen. Am stärksten wird dabei betont, wie motiviert Lernende durch AR-Anwendungen werden. Auch hier stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei nicht um einen “Neuigkeitseffekt” des Tools handelt. Als ein weiterer Vorteil wird die Ermöglichung des Lernens abstrakter Konzepte angeführt. So kann durch eine AR-Anwendung beispielsweise die Betrachtung des Weltalls in 360°, also auch durch den Fußboden hindurch ermöglicht werden. Zuletzt wird bei einer Kombination von realer und virtueller Welt die Autonomie der Lernenden gesteigert, indem beispielsweise gezielt zusätzliche Informationen gegeben werden.

Als Herausforderungen wurde die Komplexität der Nutzung von AR-Anwendungen, besonders bei jüngeren Lernenden oder Lernenden mit niedrigen Technologiefertigkeiten angeführt. Bei der Nutzung muss also eine Einführungs- und Eingewöhnungsphase miteingeplant werden, bevor die Anwendungen Lernzuwachs produzieren können. Weiterhin wird angeführt, dass durch die immersive Erfahrung im virtuellen Raum die Aufgabenstellungen für Lernende manchmal in den Hintergrund treten können.

Beispiele

Mehr Informationen und Beispiele von konkreten digitalen Anwendungen:

  • Mit dem Merge Cube können in Verbindung mit einer App 3-D-Erlebnisse erzeugt werden. Eine kostenlose Vorlage bietet einen ersten Vorgeschmack der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten: Merge Cube
  • ThingLink ist eine kostenlose, webbasierte Anwendung, mit der Bilder interaktiv gestaltet werden können: ThingLink für Lehrer und Schulen
  • Das öffentlich zugängliche Wiki liefert evidenzbasierte Hinweise zum Einsatz digitaler Medien im Lehr-Lernkontext: TüDiLB Wiki - Digitale Medien im Lehr-Lernkontext.
Zitation

Alpaslan Doganay, F., Fischer, S., Merkel, U., Breil, P., Schneider, J., & Lachner, A. (2021). Zum Einfluss von Augmented Reality auf schulischen Lernerfolg. Bibliothek aufbereiteter Forschungssynthesen Tübingen (TüDi-BASE). https://www.tuedilb-tuebingen.de/augmented-reality.html